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KC-Texte

 Texte ab 2023

2024

Prenzlau

Ausstellung  "Antlitz"

Museum Dominikanerkloster Prenzlau

Ausstellung vom 18. Februar bis 12. Mai 2024


Irene Warnke

Eröffnungsrede zur Ausstellung „Antlitz“


Die Darstellung von Menschen ist vermutlich eines der ältesten Motive in der Malerei. 

Welchen Traum träumten alle diese Menschen?


Zuerst möchte ich von einem Buch erzählen, das ich gerade gelesen habe. Es heißt „Der gefrorene Planet“ und ist  geschrieben von dem Astrophysiker George Greenstein. Im letzten Kapitel beschreibt er seinen Besuch bei Stephen Hawkings.


Wir alle kennen die Bilder von dem an ALS erkrankten Stephen Hawkings, seine entstellten und verkrampften Gesichtszüge. Greenstein wollte herausfinden, wie ein Mensch mit so deutlich sichtbaren körperlichen Einschränkungen, der nicht mehr schreiben und überhaupt noch kaum kommunizieren konnte, solche umfangreichen Rechenleistungen allein im Kopf vollbringen kann.


Greenstein fragte ihn und Stephen Hawkins antwortete mit seinem Sprachcomputer, er wisse es nicht und erinnerte an den tauben Beethoven, der auf rätselhafte Weise seine geniale Musik komponiert hat. Später sagte Greenstein, er sei beschämt darüber, dass gerade er Stephen Hawkins Geheimnis hatte lüften wollen.


Ich denke, es ist eine Gratwanderung, ein Portrait zu malen. Hätte jemand ein Portrait von Stephen Hawkins gemalt so würde der Betrachter, der nichts weiter von ihm weiß, kaum vermuten können, dass dieser Mensch zu so außerordentlichen Rechen- und Denkleistungen in der Lage war und damit half, das Universum etwas weiter zu entschlüsseln.


Eine Frau, die mich auch beeindruckt hat und deren Objekte ich gesehen habe, ist die Künstlerin  Judith Scott. Sie hat das Downsyndrom, ist taub und lebt betreut in einem Heim. Ihre gesunde Zwillingsschwester begleitet sie, hilft ihr und beschafft ihr das Material für ihre künstlerischen Objekte. Sieht man das Gesicht von Judith Scott und weiß weiter nichts von ihr, käme man nicht auf den Gedanken, eine Künstlerin vor sich zu haben, die so einmalige geheimnisvolle Objekte hervorbringt.


 Zur Malerei

Ich beginne mal mit den Mumienportraits, die Ägypten vor mehr als 2000 Jahren gemalt wurden. Es sind Portraits von Verstorbenen, meist von höher gestellte Menschen,  vielleicht von Königen. Es sind realistisch ausdrucksvolle Portraits, in Enkaustik Technik gemalt. Das ist eine Malweise mit Pigmenten und heißem Wachs auf Holzpaneelen. Die Paneele wurden an der Mumie befestigt. Über die Befindlichkeit der dargestellten Menschen wissen wir weiter nichts


In der Renaissance entwickelten holländische Maler die Ölmalerei, die sich in ganz Europa verbreitete. Diese neue Technik ergab die Möglichkeit, sehr genau und detailliert zu malen, besonders auch die Portraits.

Viele Menschen, vor allem die wohlhabenden, ließen sich portraitieren, in prächtiger Kleidung -  alles gepflegt und in göttlicher Ordnung. Diese Technik bot die Möglichkeit, bei der Darstellungen der Portraitierten auch gesellschaftliche Themen anzudeuten.


Ich denke da zum Beispiel an das Bild eines holländischen Malers zur Zeit Rembrandts. Dargestellt sind fünf Männer, gruppiert um einen großen Holztisch. Sie tragen schwarze Umhänge mit aufwändigen weißen Spitzenkragen wirken ziemlich wohlhabend. Ihre Gesichter sind realistisch gemalt und sie schauen mit dümmlich - überheblichen Blicken auf den Betrachter. Wie man weiß entstand der holländische Reichtum zum Gutteil durch den Sklavenhandel. Diese fünf Männer sind erkennbar dargestellt als reiche Gelehrte, sehen aber deutlich verwahrlost aus. Vielleicht wurde damit auch versucht, die gesellschaftliche Ungerechtigkeit oder auch die Verbrechen in den Gesichtern mit anzudeuten. Das ist meine eigene Auslegung


Wenn ein Künstler den Auftrag ausführt, ein Portrait zu malen, ist er möglicherweise in Versuchung, vielleicht sogar aufgefordert, den Menschen so zu malen wie der Auftraggeber es wünscht und wie er gesehen werden möchte. So malte van Eyck in England reiche Kaufleute in prächtiger Kleidung, manchmal auch zusammen mit der ebenso prächtig ausgestatteten Gemahlin. Man sieht mächtige Körper, stolze Gesichter, kostbare Kleidung und wertvollen Schmuck. Sicherlich hatten die Portraitierten in der Wirklichkeit wohl oft nicht solchen hoheitsvoll - gütigen Gesichtsausdruck.


Goyas Portraits der spanischen Königsfamilie sind auch nicht zurückhaltend in der Darstellung der einzelnen Gesichter. Aber auch die armen und entstellten Menschen beschönigt Goya in seiner Malerei nicht. Ihre Gesichter haben oft den dümmlichen und Mitleid erweckenden Ausdruck, mit dem sie versuchen, aus ihrer Armut Kapital zu schlagen.


Hogarth geht in manchen seiner Portraits so weit, alle schlechten Eigenschaften von Menschen darzustellen. Mit Hochmut, Boshaftigkeit, Verachtung und Verrohung hat er ein breites Spektrum in den Menschen entdeckt und gemalt.


Heute, in der Gegenwart, liegt der Schwerpunkt der Malerei in anderen Bereichen als in der Portraitmalerei.


Mit ihren Portraits probiert Karin etwas Ungewöhnliches. Sie malt nicht für den Kunstmarkt. Sie folgt einer inneren Notwendigkeit, menschliche Ausdrucksweisen und Erscheinungen zu erforschen und darzustellen, wie in den Portraits ihrer Mutter, in denen sie versucht, den Verfall und die Vergänglichkeit sichtbar zu machen. Das ist etwas, was wir heute in der Gegenwart nicht wahrhaben wollen und deshalb in besonderen Heimen verstecken.


Karin stellt nicht so sehr das persönlich Individuelle der einzelnen Menschen dar, sondern allgemein Menschliches vor dem Hintergrund der Gegenwart,  etwa der letzten 50 Jahre, so auch die Vergänglichkeit unserer Existenz und unsere Haltung dazu. Nicht die Ereignisse zeichnen sich in den Gesichtern ab, sondern das Rätsel unseres Daseins. Unsicherheit und Angst aber auch Gelassenheit und Würde prägen die Gesichter. Die Darstellung ist reduziert, alles Schmückende, Ablenkende wie zum Beispiel Kleidung oder Landschaft, Himmel und Wolken sind nicht zu sehen. Es geht um das Gesicht und seinen Ausdruck. 

Was nehme ich wahr?

Nicht jeder sieht das gleiche, aber jeder ist gefordert, sich daran zu halten, was er selbst sieht.


 Der Schutzwall

An der Stirnwand sehen wir ein Gemälde mit dem Namen „Schutzwall“. Dargestellt ist eine heruntergekommene Leinwand, aufgehängt an schiefen Pfählen. Wer oder was soll geschützt werden und wovor?

Sind Schutzwälle überhaupt hilfreich? Oder gar sinnlos?


Ihre ersten Portraits malte Karin nach dem Tod ihrer Mutter.  Die Erinnerungen eines ganzen Lebens sind eingeschlossen in diesem Schädel. Und sie gehen wieder verloren. Aber die Erlebnisse prägten das Gesicht, sie bildeten Falten und Runzeln. Mit ihrer Malweise zeigt Karin uns, wie die Gesichtszüge verschwimmen, ausdruckslos werden und die Verbindung zur gegenständlichen Welt und ihren Menschen verloren geht. Die Augenlider sind schwer und müde, der Kampf ist vorbei.

Auf diesem Bild hier sehen wir eine Frau, die mit dem Down-Syndrom auf die Welt kam. Es ist Karin gelungen das Bild einer Frau zu malen, die genau den Gesichtsausdruck zeigt, den wir als Down-Syndrom erkennen. Der Muskeltonus bei diesen Menschen ist nicht so stark und die Kontrolle über ihre Gesichtszüge entgleitet ihnen leicht. So erscheinen sie uns immer gutmütig zu sein und bereit zu lachen. Wie auch die Frau in dieser Darstellung. Fast ein Halblächeln und gutmütige Zufriedenheit strahlt sie aus. Aber über allem scheint auch eine Unsicherheit zu liegen.


Ganz anders in Malweise und Technik sind die Bilder der jungen Erwachsenen und die Kinderbilder.

Die Kinderbilder haben ihren Platz über dem morschen Schutzzaun bekommen. Sie scheinen die Hoffnungsträger zu sein. Schauen Sie auf die junge Frau mit den violetten Haaren. Sie könnte die ältere Schwester des jungen Mädchens sein, die aus ihrer Träumerei in der Kindheit und Jugend eintritt in das Erwachsenenleben. Es strahlt eine Sensibilität und Zartheit aus, die vielleicht noch Schutz brauchen.

Die ältere Schwester ist schon gezeichnet, es deutet sich eine Härte an, wie sie entsteht durch Demütigung oder Enttäuschung.


Eigentlich  sollte mein Vortrag hier zu Ende sein. Aber dann bin ich aufmerksam geworden auf ein Buch der Ethnologin Heike Behrend – „Menschwerdung eines Affen“. Über die Portraitmalerei berichtet sie:

„Sowie das individuelle Portrait in viele Teilen Afrikas in der vorkolonialen Kunst verboten war, weil nicht das Einzigartige des Individuums sondern seine soziale, den anderen zugewandte Seite interessierte, so stellten die Künstler eher das beispielhafte Allgemeine heraus.  ....  Sie sahen sich eher von außen und betrachteten ihre Person opak  (= undurchsichtig), als ein geschlossenes Gefäß, in das man nicht hineinschauen kann. Ihr Ich gehörte vor allem den anderen.“


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2023

Kunst in der Dorfkirche Woddow

EXKURS

das Kirchengebäude

(in Arbeit)

Das Äußere des Kirchenbaus in Woddow beeindruckt durch sein sorgfältig gequadertes, in Lagen geschichtetes Feldsteinmauerwerk, wahrscheinlich das Werk einer professionellen Wanderbauhütte. Die Südwand mit den Lanzettfenstern und dem Stufenportal zeigt ihre ursprüngliche Gestalt. Die Sicht auf die  Westseite ist durch einen Vorbau aus den 1960er Jahren verstellt, der einen Fachwerkturm aus der Barockzeit ersetzte und den Glockenstuhl enthält.


Der Bau wurde in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts errichtet, nachdem die kriegerische Landnahme durch den deutschen Feudaladel und die Christianisierung des slawischen Adels weitgehend abgeschlossen war. Ihn als Wehrkirche zu bezeichnen ist daher irreführend. Die Architektur symbolisiert eher wehrtüchtigkeit  im Kampf gegen das Heidnische und das Böse. Das Bauwerk zeigt sich uns heute als schlichter Funktionsbau im Geist der äußeren Prunk ablehnenden Zisterzienser. Es steht repräsentativ für den Schutz und Macht Gottes sowie  die Ordnungsprinzipien der neu entstehenden feudalen Gesellschaft unter den weltlichen und geistlichen, deutschen und slawischen Fürsten und Grundherren. Die Bauern arbeiten selbständig, sind jedoch Hörige innerhalb des Lehnswesens.Sie sind zehntpflichtig gegenüber dem Adel und dem Klerus.


Das Dorf Woddow gehörte zum
Bistum Cammin (heute: Kamin Pomorski), das 1175 unter dem Schutz des christlichen pommerschen Herzogs gegründet wurde. In dieser Zeit wurden östlich der Elbe systematisch deutschrechtliche Dörfer und Städte gegründet, die Neusiedlern aus dem deutschen Reich wirtschaftliche Vorteile und mehr persönliche Freiheiten versprachen. Die Organisatoren waren oft deutsche oder heimische Siedlungsunternehmer, sogenannte "Lokatoren". Umweltkatastrophen und Klimaänderungen in Mitteleuropa begünstigten die Siedlerbewegungen. 


Stichwörter:

Regeln / Abgabe-Naturalien/ Liturgie / Sprache / Arbeitszeiten/ Feiertage / Priester / Stifter (Finanzierung) /Frohndienst /

Leibeigenschaft / Grablege / jüngstes Gericht / Rechtsprechung / Stände/


Wollschow, 15. September 2023



Bildende Kunst im Brüssower Land


Zeitgenössische Kunst in der Dorfkirche Woddow? 

Wo denn sonst?


Die Malerin und Bildhauerin Karin Christiansen hat ihre Ausstellungsinstallation „angesichts des Krieges“ eigens für die Woddower Kirche, das Bauwerk mit seinem besonderen Raum und seiner  besonderen Geschichte entwickelt. Für die Monate Juli und August verwandelt sie den Innenraumes eindrucksvoll in einen Ort der Besinnung und Rückbesinnung auf die Schrecken des Krieges. Den Schrecken des russischen Krieges in der Ukraine aktuell medial miterlebt und durch die Anwesenheit ukrainischer Flüchtlinge in der Gemeinde und die wirkmächtig Vergegenwärtigung  der Geschehen während des Endphase des Krieges im Jahr 1945 hier im Brüssower Land.


Es gibt drei gutbesuchte Veranstaltungen:

die Eröffnung mit der Begrüßung durch den Veranstalter Pfarrer Matthias Gienke und einer Einführung (s. u.) von Irene Warnke, Freundin und Künstlerkollegin Karin Christiansens,

zur Halbzeit  eine Lesung von Rochus Stordeur (s. u.) mit anschließendem Gespräch

und die Finissage mit einem Orgelkonzert des Kantors Julius Mauersberger. 


Besucher, Initiatoren und Unterstützer des Ereignisses nutzen diese Gelegenheiten sich über ihre persönlichen Eindrücke über die Kunst, die sie in der Kirche sehen, auszutauschen und ihre Meinungen angesichts des Krieges zu reflektieren.

Am Ende der Ausstellung versammelten  sie sich unter dem  schützenden Blätterdach des Nussbaums im wollschower Garten der Künstlerin. Dank allen Beteiligten und tätigen Unterstützern.


Kunst in der Woddower Kirche, Fortsetzung erwünscht.

Bernhard Nürnberger

 


l`homme armé on doit douter.

on fait partout crier

que chacun d'devrait s'armer

d'un haubregon de fer.

l`homme armé on doit douter.


den bewaffneten mann soll man fürchten.

man hat überall ausrufen lassen,

mit einem eisernen Kettenhemd

soll sich jeder mann bewaffnen.

den bewaffneten mann soll man fürchten.

nach: Volksmusik aus dem 15. Jahrhundert


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Ausstellung "angesichts des Krieges"

Eröffnungsrede

von Irene Warnke


Herzlich Willkommen zur Ausstellung von Karin Christiansen in der alten Kirche von Woddow

Der Innenraum einer Kirche war einmal ein Ort für unsere Tränen, Träume und für unsere Hoffnungen. Wir hofften auf Antworten zu den Fragen unseres Daseins auf der Erde.  In der neueren Zeit ist diese Zuflucht in Vergessenheit geraten, die Türen wurden verschlossen und die Spinnen webten ihre Netze an den Fenstern. Jetzt ist einer dieser Räume wieder belebt. Bilder und Objekte spiegeln unsere Gedanken, Wünsche und Hoffnungen wider in einer neuen Form.


Karin hat drei Bereiche gestaltet:

       die Welt der Täuschung und der Illusionen

       die Welt der Hoffnung und der Träume

       den Wald der Erkenntnis


Ich durfte in Karins Zeichenbüchern blättern. Ich konnte Zeichnungen sehen, die den Prozess der Entstehung der Hütten und Zelte begleitet und entwickelt haben. Kohlestriche in einer Landschaft, mehrere Striche und es entsteht eine Fläche, ein geometrisches Gebilde, ein Raum mit ungleichen Flächen. Mit dem Raumgebilde entsteht auch eine Stimmung. Die Fantasie geht mit und bildet ein Haus in einer Landschaft. Beim Weiterblättern im Zeichenbuch entsteht der Wunsch, diesen Entwurf in der Wirklichkeit zu sehen, von Licht und Schatten umspielt. Es stellen sich Assoziationen ein von Flüchtlingslagern, von Zelten bis zum Horizont. Provisorisches Wohnen wird zu Dauerzustand.


Karins Behausungen, die wir hier sehen, sind Zelte und Hütten, aus Zivilisationsabfällen errichtet. Sie scheinen aus Blech zu sein. Aber beim Anfassen spürt man wie das Material nachgibt. Alles besteht aus Plastik oder Gummimatten, alten Stofffetzen und anderem undefinierbaren Material, zusammengetackert oder gebunden.

     Die graue Farbe ist in unserem kollektiven Gedächtnis unvermeidlich mit den grauen  Farben des Krieges gespeichert.


Karin hat ein ausgeprägtes räumliches Vorstellungsvermögen. Architektonische Fantasiegebilde entstanden aus widerspenstigem Material. Kleine Details wie schmale fensterähnliche Schlitze assoziieren die Möglichkeit der Bewohnbarkeit der Hütten. Sie sind mehr ein Unterschlupf oder ein Versteck, von dem heraus im Falle einer Verfolgung eine Verteidigung möglich ist. Der Grundgedanke dieser Arbeiten ist die Gleichzeitigkeit von erhofftem Schutz und nicht erfüllter Hoffnung auf Sicherheit.


In einer meiner Lieblingshütten sieht man, wenn man durch einen kleinen Spalt in das Innere schaut und die Dunkelheit durchdringt, einen zweiten Lichtspalt. Schaut man genauer, erweist sich dieser Lichtspalt als eine Spiegelung – eine Illusion, als gäbe es einen Ausgang dort hinten. Das ist für mich das Thema dieses Teils von Karins Ausstellung: „Die Welt der Illusion“.

     Und das in einem Gotteshaus, das uns durch seine Größe und Festigkeit ebenso die Frage stellen lässt nach dem Schutz für uns Menschen.


Es gibt auch die Welt der Hoffnung und der Träume, die in den Bildern dargestellt ist.

Idealtypische Ansichten von Menschen aus dem Familienkreis von Karin. Sie schauen ernst und wach und freundlich auf die Welt. Daneben die Traumbilder, Darstellungen zwischen Angstträumen und entspanntem Traumerleben, so wie wir die Welt sehen, halb wachend, halb schlafend.


In Märchen muss oftmals ein Wald, das Dickicht durchquert werden. Auf dem Weg sind unangenehme Aufgaben zu lösen und nach erfolgreicher Durchdringung wird der Wanderer mit neuen Erkenntnissen belohnt. Das ist „der Wald der Erkenntnis“. 

Ob dieser Wald, den Karin hier gestaltet hat, auch Aufgaben in sich birkt, ist nicht zu erkennen. Das Holz ist brüchig, liegt zum Teil am Boden. Diese Bäume scheinen nicht mehr zu wachsen und werden keine neuen Blätter mehr hervorbringen. Man kann sehen, wie fragil ein Wald ist.

Experimentell hat Karin ein fremdes Gestaltungselement in die Baumgruppen gesetzt, drei Portraits mit kämpferischem Ausdruck. Sie kommen aus der Welt der Hoffnung und der Träume. Der Niedergang des Waldes wird verbunden mit der Hoffnung und den Träumen von einem neuen Wald


Ich habe als Künstlerin mit den gleichen Fragen zu tun und versuche, sie auf meine Art darzustellen. Solange ich lebe bin ich herausgefordert, mich mit den Menschheitsfragen zu befassen, mit den bildnerischen Mitteln, die ich mir aussuche. Karin hat hier unter anderem das genommen was wir Kulturschrott nennen. Damit ist ein bestimmter Schwerpunkt in den Blick gerückt bei den Fragen:

     wo leben wir?

     und: wie leben wir?

     Wollen wir so leben?

     Liegt es in unserer Macht, etwas zu ändern?


Die kurze Zeit der Unbekümmertheit ist vorbei, die Kriege rücken näher und es stellt sich wieder die Frage nach dem Schutz. Und wahrscheinlich ist der Schutz wieder eine Illusion, so wie es uns Karin mit ihren Hütten zeigt.


Irene Warnke

irenewarnke@snafu.de


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Lesung

 

Beitrag von Rochus Stordeur

Das Gemälde von Karin Christiansen zeigt einen menschlichen Reflex und Überlebens-versuch: eine Mutter mit mehreren Töchtern, die zu Puppen erstarrt sind, schläft in einem Nest aus Möbeln und Müll. Sie liegen zusammengerollt und imitieren Geborgenheit. Denn eine wirkliche Geborgenheit, das Nest, die Wärme, den Schutz, kann es im kalten, leeren Raum nicht geben. Die Trümmer, Ruinen und Reste zeigen vielmehr, wo das vermeintliche Nest sich befindet. Es ist irgendwo im Krieg, in jedem Krieg. Im Krieg zerbersten die Zitadellen, stürzen die Kirchtürme und verlieren sich die Menschen im leeren Raum. In jedem Krieg sind die Kinder die bedauernswertesten Opfer: durch Ostpreußen huschten die verhungerten und verwaisten Wolfskinder, in Afrika – so einige Bilder von Christiansen – werden Kinder als billige und willige Soldaten missbraucht. Aber waren nicht auch die Hitlerjungen missbrauchte Kindersoldaten? Putin lässt ukrainische Kinder stehlen, um der russischen demografischen Katastrophe aufzuhelfen. Selbst dieses grausige Detail hat er Hitler und Himmler abgeschaut.


Als wir Kinder waren, wurden nach den Nachrichten im Radio Meldungen des Suchdienstes des Deutschen Roten Kreuzes verlesen:


GESUCHT WIRD ERIKA, BLONDES HAAR, BLAUE AUGEN, DAMALS SIEBEN JAHRE ALT, 

ZULETZT GESEHEN IN TAUROGGEN


Heute finden wir in den Suchmaschinen des Riesenkraken Google alles. Aber alles ist unwichtiger als die damals verloren gegangene Erika, die vielleicht ihre letzte Nacht in imitierter Geborgenheit in diesem Nest mit ihrer Mutter, ihren Schwestern und ihren Puppen verbracht hatte, das dann später in besserer Zeit von Karin Christiansen gemalt wurde. Und wie schon das berühmte Sonett von Andreas Gryphius aus dem dreißigjährigen Krieg oder das nicht weniger berühmte Gedicht `S IST KRIEG UND ICH BEGEHRE NICHT SCHULD DARAN ZU SEIN von Matthias Claudius oder wie das noch berühmtere Picassobild vom zerstörten Guernica, so will uns auch diese Sammlung von Bildern und Installationen sagen, was wir tun können: Menschen helfen, Kriegsrhetorik ächten, die richtige Partei wählen oder jedenfalls nicht die falsche, glauben, dass das Böse nicht siegen kann, hoffen, dass immer letztlich das Gute sich durchsetzt, die Menschen auch dann noch lieben, wenn sie offensichtlich irren[5].   


[1] 1. KORINTHERBRIEF, 1312  [2] CLAUSEWITZ, Vom Kriege, Leipzig 1935, S. 88. [3] MATTHÄUS, 2652  [4] KIESELBACH, Aufzeichnungen über die Stadt Brüssow, S. 131ff.   [5] 1.KORINTHERBRIEF, 1313


Siehe auch:  https://rochusthal.blog  >Beitrag: Antikrieg in Woddow


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