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Bernhard Nürnberger_ galerie-imaginaire
2012_Ausstellung_maß und zweifel
Helmut Klock - Bernhard Nürnberger - Jürgen Rißmann
Jürgen Rißmann
Maß & Zweifel.
Ausstellungsbeiträge in Wort, Bild, Objekt
Eröffnungsrede zur Ausstellung am Dienstag, 13. Oktober 2020, 19 Uhr, in der Petruskirche in Lichterfelde, Oberhofer Platz 3
Drei alte weiße Künstler, weit über 70, über 80 Jahre alt, „maßlos“ mit Kunst und Lebenswirklichkeit vollgesogen, haben Sie heute eingeladen. Zwei von ihnen, Helmut Klock und Bernhard Nürnberger, möchten Sie mit den Begriffen „Maß und Zweifel“ in ihre Bild- und Objektwelten locken und ich, Jürgen Rißmann, der hier vor Ihnen steht, will Sie durch das Dickicht, das Gestrüpp ihrer verborgenen Geheimnisse leiten.
Als der Palast der Republik im Sterben stand, ausgeweidet, ausgeblutet, nur noch Stahlknochen und Haut, konnten Sie in seinen Innereien herumgehen. Es gab noch Ausstellungen mit renommierten Künstlern. Durch das fast blinde Glas konnte man noch faszinierende Fotos der Umgebung machen, vom Dom, vom Fernsehturm. Als also der Palast starb, installierte auf seiner Stirn im Januar 2006 der norwegische Künstler Lars Ramberg aus sechs Meter hohen neonbeleuchteten Buchstaben das Wort „Zweifel“. Es schien, als ob der Palast sich noch wehren wollte, als ob er uns zuriefe: „Lasst ab, denkt nach! Seid ihr sicher? Ist euch klar, was mein Tod für die Menschen bedeutet, in der Geschichte, in der Gegenwart? So wie 1950 das Schloss, das vor mir hier stand, im Krieg waidwund geschossen, sich gegen seine Sprengung gewehrt haben mag und nur wenige es hörten?“
Zweifel – was für ein Wort! In unsere Gedanken genommen breitet es sich aus, erwischt uns auf dem falschen Fuß, lässt uns unsicher werden auf unseren Wegen, die wir nur allzu sicher gegangen sind. Zweifeln meint: Innehalten, Überprüfen, Wägen, Warten, „wenn möglich bitte wenden“. Sich auf den Zweifel einzulassen, den Zweifel positiv und produktiv zu werten, das erfordert Mut und Neugier, Fähigkeit zur Offenheit anderen Meinungen gegenüber. Denn es geht in unserer Gesellschaft, in der Welt des Virus, der Umweltveränderungen um den Zweifel in der Demokratie und nicht an der Demokratie, es geht um den Zweifel in der Politik, in der Wissenschaft – nicht an ihr. Es geht um den Zweifel in der Kultur, in der Kunst und nicht an ihr. Gerhard Richter sagt, der Zweifel sei das konstitutive Element seiner Arbeiten.
Für viele ist Zweifeln aber negativ besetzt. Sie haben feste Meinungen, sind für andere Gedanken, Überlegungen nicht zugänglich, vermuten irrationale Verschwörungen. So ist es also Bill Gates, der uns Chips implantieren will, um uns zu beherrschen?
Es mag erwähnt sein, dass dieser Mann hier in der Kirche, der Petrus, auch Zweifler war, ein Verzweifelter. In seiner Todesangst schien für ihn das Band des bedingungslosen Vertrauens zu Jesus zu reißen. In einer Kirche, die seinen Namen trägt, in diesem Raum, in dem wir Gäste sind, geht es in den Gesprächen gewiss oft um den Zweifel und ich habe kess dieses Wort auf den Boden geschrieben: Anregung, Nachdenken, Hinterfragen, Zuhören,... Vielleicht ist ja der Zweifel der Christen, die hier beten, eine Grundbedingung ihres Glaubens.
Es gibt diesen Kupferstich von Albrecht Dürer, nicht einmal DIN A4 groß, der zu den berühmtesten und meist diskutierten Kunstwerken gehört und den selbst Giorgio Vasari zu den Werken rechnet, die die Welt in Erstaunen versetzt: „Che facevano stupire il mondo“, die „Melencolia I“.
Die Literatur über den Stich ist turmhoch und ich werde gewiss heute Abend keine weitere Interpretation hinzufügen. Das Blatt steckt voller Rätsel durch die Figuren und Gegenstände, die letztendlich nicht vollständig lösbar sind. Von den vielen Gegenständen, die sich durch die bekränzte, geflügelte Frau (Engel, Allegorie der Melancholie?) befinden fallen einige auf, die auf das Messen, das Maß deuten:
Die Glocke, deren Klöppel im Lot hängt, das Stundenglas, das halb voll, halb leer ist, die Waage in der Waage, der Zirkel in der Hand der Figur, das magische Quadrat, das senkrecht und waagerecht immer zu 34 addiert und das in den unteren Fächern die Jahreszahl der Entstehung unseres Stiches enthält: 1514. Dazu das Maß am unteren Bildrand, ein Richtscheit.
Ein Richtscheit „Maurers Lob“ aus Alu kann man sich heute für etwa 10 € bei Hornbach holen.
Alles scheint in seiner Ordnung zu sein, zufällig hingestreut. Doch störend und wie ein Fremdkörper in dieser drängenden Enge wirkt neben der perfekten Kugel (Symbol für Fortuna, das Glück?) der Polyeder auf uns: Plötzlich dahin gesetzt - er hat ja kaum Platz - wie aus einem anderen Universum, ein Sendbote des Planeten, den wir am Horizont sehen.
Und ähnlich fremd und verstörend wirkt der Stein wie der berühmte Monilith in Stanley Kubricks Film „2001, Odyssee im Weltraum“, der zu Beginn unseres Zeitalters plötzlich vor einer Horde Menschenaffen auftaucht, und der die Menschen Jahrtausende später auf den Mond und dann zu einer Mission auf den Jupiter ruft, führt.
Der Polyeder auf dem Stich, der uns drei Künstler seit Jahren beschäftigt, gibt uns Rätsel auf, vor allem auf drei Fragen: 1.Woraus besteht er? 2. Wie ist er gemacht? 3. Was bedeutet er? Die erste Frage ist leicht zu beantworten: Er ist wohl aus Stein. Alle Seiten sind perfekt geschliffen. Alle Seiten? Zweifel schleichen sich ein. Wie sieht er von hinten aus? Wir wissen' s nicht. Lösungsvorschläge gibt es hier im Raum, auch bei Anselm Kiefer und anderen. Die Frage „Wie ist er gemacht?“ ist noch ernüchternder. Er ist nicht aus Stein, er ist aus Papier! Und er ist nicht mehrdimensional, sondern nur zweidimensional. Albrecht Dürer hat uns reingelegt, in die Irre geführt: Das was wir sehen ist nicht das was es vorgibt zu sein. Er hat uns mit den Mitteln der Grafik, der Architektur, der Mathematik, der Geometrie auf einer zweidimensionalen Fläche die Illusion einer räumlichen Wirklichkeit entworfen. Es ist eine Sichtweise, die wir heute als vertraut empfinden. Sie herrschte in der Kunst bis etwa zum Impressionismus vor, erst mit Cézanne, durch den Kubismus, den Expressionismus „entlarvt“.
Es wäre interessant für mich zu wissen inwieweit Sie, verehrte Gäste, in den Arbeiten der Herren Klock und Nürnberger den Polyeder als ein noch illusionistisches Raumobjekt entdecken können. Und das führt mich zur dritten meiner Fragen: In welchen Bedeutungszusammenhang haben die beiden nach Ihrer Ansicht den Polyeder gestellt? Wie interpretieren sie ihn? Welche Funktion hat er in ihren Werken? Es gibt ja keinen Kontext für den Stein. Oder emanzipiert er sich eher in einer autonomen, malerischen und grafischen Form?
„Er ist ausschließlich aus sich selbst verständlich und wenn er nicht verständlich ist, ist gerade das für ihn bestimmend.“ (László F. Földényi).
Ein Wort noch zu Dürer in seiner Zeit des Kupferstichs 1514: Es ist eine Zeit, in der trotz wissenschaftlicher und künstlerischer Entwicklungen und der Suche nach Ordnung und Maß eine große Verunsicherung um sich greift. Das Osmanische Reich drängt nach Europa, die Entdeckungen von Vasco da Gama und Columbus zerstören ein als sicher empfundenes eurozentrisches Weltbild. Die katholische Kirche ist in der Krise. Drei Jahre später, 1517, schlägt Martin Luther seine Thesen an die Schlosskirche in Wittenberg...
Und schmerzlich für Albrecht Dürer: 1514 stirbt seine Mutter, nachdem sie ein Jahr lang elendig dahinsiechte. Er hing so sehr an ihr. Albrecht war ihr drittes Kind, geboren am 21, Mai 1471 in Nürnberg. 18 Kinder hatte Barbara Dürer geb. Holper zwischen 1468 und 1492 zur Welt gebracht. Es gibt diese erschütternde Kohlezeichnung im Kupferstichkabinett in Berlin, die Albrecht wenige Wochen vor ihrem Tod machte. Sie starb mit 63 Jahren.
In dem riesigen Raumschiff im Film „2001“, das auf den Spuren des Monolithen durch das All Richtung Jupiter rast, arbeitet ein mächtiger Computer, der sich mit den Astronauten unterhalten kann (1968!). Während der langen Reise kommen HAL, so heißt er, allmählich Zweifel, ob die Astronauten überhaupt in der Lage sind in ihrer menschlichen Fehlerhaftigkeit eine derartig komplexe Mission auszuführen. Und er bringt sie alle nacheinander um, bis auf Dave Bouman,,,, der ihn ausschalten kann. Der Computer HAL, man kann ihn auch wie „hell“ aussprechen, argumentiert, die Mission sei zu wichtig, um sie den Menschen zu überlassen. Setzt man die Buchstaben HAL im Alphabet jeweils um einen Buchstaben nach rechts, entsteht IBM.
In seinem neuesten Buch „Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens“ fragt der Philosoph Richard David Precht „... was künstliche Intelligenz mit unserem Selbst- und Menschenbild macht und wie sie unsere Selbstverwirklichung beeinflusst. Es geht um die Frage eines künftigen Menschseins in einer immer technisierteren Welt, in der Technologie nicht wie ein Automat funktioniert, sondern in der sie die Automaten selbst automatisiert und damit selbsttätig in unser Leben eingreift. Was bedeutet das für uns? Welcher Sinn wird dadurch gestiftet und welcher genommen?
Und vor allem: Welche Grenzen müssen wir ziehen, damit unsere Zukunft tatsächlich human wird? Denn künstliche Intelligenz hat zwar einiges mit Intelligenz zu tun - aber kaum etwas mit Verstand und nicht entfernt mit Vernunft!“
Von Dürers Polyeder mit Saturn am Firmament zu Kubricks Monolithen auf dem Weg zum Jupiter. Vom allwissenden Computer HAL zur KI und unserer Zukunft. Wie modern ist uns doch Albrecht Dürer!
Maß und Zweifel: Wir drei hier mit unseren Produkten, lange dran gearbeitet, lange überlegt, oftmals verworfen, immer nach Form und Maß gesucht und immer zweifelnd.
Siehe, der Zweifel ist produktiv und auch noch schön!
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Literatur
1471 Albrecht Dürer 1971, Ausstellungskatalog, Nürnberg 1971
Albrecht Dürer, Kritischer Katalog der Zeichnungen, Berlin1984
Dürers Mutter. Schönheit, Alter und Tod im Bild der Renaissance, Ausstellungskatalog, Berlin 2006
Klaus-Rüdiger Mai, Dürer. Das Universalgenie der Deutschen, Berlin 2015
Melancholie, in: Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus 9/I, Hamburg 2018
Norbert Wolf, Albrecht Dürer, München 2019
László F. Földényi, Lob der Melancholie. Rätselhafte Botschaften, Berlin 2019
Richard David Precht, Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens, München 2020